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Mach Dir keine Sorgen, hat er sie angelächelt. Heute Nachmittag sitze ich schon wieder im Bett. Das war an einem Morgen vor elf Monaten. Patrick stand kurz vor dem Abitur. Heute ist er ein Pflegefall. VIESELBACH. Ein freundlicher, aufgeweckter Junge, neugierig auf die Welt.
Einzig die häufigen Mittelohrentzündungen machten der Familie Sorgen. Irgendwann
hatte Patrick ein Loch im Trommelfell. Keine große Sache, aber unbedingt zu
operieren. Am besten, wenn er 18 ist, hatte der HNO-Arzt vorgeschlagen. Patrick
hatte extra die Herbstferien gewählt, um in der Schule nichts zu verpassen. Ein
guter Schüler, mit einem Faible für Computer, auch die Seminarfacharbeit war
schon fertig. Beliebt in seiner Klasse, ein leidenschaftlicher, ausdauernder
Fahrradfahrer. Und nach dutzenden Bewerbungen schon Anfang der Zwölften stolzer
Besitzer eines Studienplatzes für Wirtschaftsinformatik in Jena."Er sollte drei
Tage in der Klinik bleiben, hat noch seine Fahrschulunterlagen eingepackt, um
die Zeit zu nutzen", erzählt seine Mutter.Patrick wurde am 24. Oktober 2005 im
Helios Klinikum operiert. Die OP war fast beendet, als sein Herz stehenblieb. Es
hörte auf zu schlagen, es weigerte sich, Sauerstoff ins Gehirn zu pumpen.
Patrick war klinisch tot, wurde reanimiert. Erst nach mehr als einer
Viertelstunde gelang es Ärzten und Schwestern, ihn zurückzuholen. "Es gab einen
kleinen Zwischenfall" - Iris Hoffmann hat die hilflos-absurden Worte des Arztes
am Telefon noch im Ohr. Als sie wenig später auf der Intensivstation am Bett
ihres Jungen stand, lag er im künstlichen Koma und sie ahnte noch nicht, dass
sein Hirn durch den Sauerstoffmangel irreparabel geschädigt war. Hypoxischer
Hirnschaden.Sie konnte es sich nicht erklären: Wo, wenn nicht in einem
Krankenhaus, in einem OP mit allen modernen medizinischen Geräten, wäre einem
Herzstillstand beizukommen gewesen? Sehr bald hatte sie das Gefühl, dass einiges
nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. "Von der OP gab es keine elektronischen
Protokolle, keine EKG-Aufzeichnung, alles war gelöscht", erzählt sie. Es gab nur
handschriftliche Unterlagen. Von denen bekam sie je ein Blatt gezeigt, den
Aufklärungsbogen für Patienten und den Narkose-Verlauf. Was sie damals noch
nicht wusste: Jedes dieser Papiere existiert in zwei Varianten. Im Nachhinein
wurden auf dem Aufklärungsbogen offenbar weitere Risiko-Punkte aufgelistet, auf
die der Patient angeblich aufmerksam gemacht worden war. Es wurde viel
herumgeschmiert in den Unterlagen. Das Protokoll zeigt in einer Ausfertigung
einen heftigen Ausschlag bei der Herzfrequenz, in einer zweiten Ausfertigung
fehlt dieser Zacken. Kopfschüttelnd deutet Iris Hoffmann auch auf das
Aufwachprotokoll, das man ihr aushändigte. Es vermeldet, der Patient sei wach
und rosig gewesen, habe ungehindert geatmet und einen stabilen Kreislauf gehabt.
"Ein Hohn." Iris Hoffmann kennt alle Schriftstücke auswendig - die gefälschten
und die originalen, die eines Tages in ihrem Briefkasten steckten. Doch es gibt
nicht nur doppelte Protokolle. Patrick war auch nicht über den Einsatz eines so
genannten MAfA - eines Anästhesie-Assistenten - aufgeklärt worden. MAfA sind
speziell ausgebildete Pflegekräfte, aber keine Anästhesisten, die die Narkose
und damit das Leben des Patienten überwachen. Die Helios-Kliniken propagieren
das MAfA-System, in der deutschen Ärzteschaft ist es umstritten. Eine heftige
Debatte lief unlängst im WDR. Dr. Gerald Burgard, Anästhesie-Chefarzt bei Helios
Erfurt, befürwortete darin die MAfA und sagte: "Es ist überhaupt nicht
interessant und überhaupt nicht attraktiv, eine Anästhesie von vorne bis hinten
auszusitzen. Ein Akademiker hat andere Aufgaben, als Dinge zu machen, die er
delegieren kann." (O-Ton WDR) "Als er ein ähnliches Statement im mdr-Fernsehen
abgab und äußerte, es habe bisher keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben,
lief mir die Galle über", sagt Iris Hoffmann.Familie Hoffmann hat lange
gewartet, ehe sie Strafanzeige gegen Helios stellte. "Wir haben gehofft, dass
jemand kommt und uns Aufklärung gibt", so Iris Hoffmann. "Vergeblich." Jetzt
muss ein Richter helfen, die Stunden im OP lückenlos nachzuvollziehen. Es geht
auch um Geld - um dem Jungen diese Zukunft, die er nicht mehr selbst finanzieren
kann, die er nie wollte und die sich niemand in den bösesten Träumen ausgemalt
hätte, wenigstens materiell zu sichern. Von der Helios-Zentrale in Fulda kommt
nur ein offizieller Satz: "Wir bedauern den Zwischenfall und die Folgen", dann
folgt der Verweis auf Schweigepflicht, Versicherungen und Anwälte. Auch davon
kann Frau Hoffmann viel erzählen: Ein Vierteljahr habe sich der zuständige
Makler Zeit gelassen, bis die Unterlagen von Helios Erfurt zur
Konzern-Versicherung, der Züricher, gelangt seien. Die erstellte dann ein
Gutachten - und jedesmal, wenn Frau Hoffmann das Amtsdeutsch liest, zittern ihr
die Finger. "Keiner weiß, warum es passiert ist, das alles ist medizinisch für
uns nicht erklärbar", sagt der Ärztliche Direktor des Klinikums, Prof. Dr. Dirk
Eßer. "Aber es lässt sich nicht wegdiskutieren." Eßer hat sich ebenso wie seine
Vorgängerin Dr. Liedloff intensiv um den Kontakt zur Familie bemüht - im
Gegensatz zu anderen Mitarbeitern des Hauses. Eßer ist sicher, "dass der
Herzstillstand nicht durch den MAfA verursacht wurde." Mehr darf und will er
nicht sagen, das laufende Verfahren . . . "Vielleicht war es höhere Gewalt."
Auch dieser Satz ist im Klinikum zur Erklärung zu hören. Doch Iris Hoffmann
schüttelt den Kopf. Ihr Sohn war 18 und bis auf ein allergisches Asthma mit
Prednisolon-Allergie - die den Ärzten im Vorfeld detailliert mitgeteilt wurde -
gesund. "Wenn es höhere Gewalt war, muss niemand die Protokolle
fälschen."Patrick weiß wenig von dem, was seine Eltern durch haben. Er hat nur
Bruchstücke im Kopf von der Zeit nach dem 24. Oktober: Alle Versuche, ihn aus
dem künstlichen Koma aufwachen zu lassen, scheiterten. Er fiel ins Wachkoma,
drei Monate lang dämmerte er in einer Zwischenwelt. Die Eltern kümmerten sich
selbst um eine Rehabilitationsklinik, fanden im sächsischen Kreischa einen
Platz, wo er liebevoll aufgenommen wurde und nach Kräften gefördert wird. Das
einzige, was Patrick bewegen kann, sind Arme und Kopf. Alle anderen Muskeln
arbeiten nicht wie sie sollen. Die Kanüle im Hals, die ihm Monate lang das Atmen
ermöglichte, ist jetzt entfernt. Patrick atmet selbst, er lächelt, manchmal
lacht er lauthals. "Das Langzeitgedächtnis wird zunehmend besser", sagt seine
Mutter. Er erkennt seine Familie, er freut sich unbändig, wenn ihn seine
Lehrerin besucht oder wenn zwei einstige Mitschüler die drei Stunden Fahrt in
die Klinik auf sich nehmen. Diese Besucher gehören zu den Menschen, die seinen
Eltern immer wieder eine tiefe Freude ins Herz zaubern. Für Familie Hoffmann
spielt sich das Leben seit Monaten auf der Autobahn ab. Jede freie Minute, jedes
Wochenende sind sie in Kreischa. Spazierfahrten mit dem Rollstuhl,
Vorleserunden, lange Erzählungen, damit Patrick etwas mitbekommt vom Leben
außerhalb der Klinik. "Man merkt ihm an, dass er gern sprechen, sich bewegen
möchte. Und dass ihm bewusst ist, dass er nicht so kann, wie er gern will." Wenn
Patrick nach Hause entlassen wird, soll er am Leben teilhaben können, er soll
unter Leute, sagen seine Eltern und hoffen auf eine geschützte Werkstatt, auf
die Hilfe von Pflegediensten. Sie wissen auch, dass ihr großer, starker Sohn
wohl nie mehr selbstständig leben kann. "Wir dachten, wir haben ihn groß." Die
Gedanken von Eltern, deren Kind 18 wird, hatten auch sie. Unendlich lang scheint
das her. Jetzt freuen sie sich über jeden kleinen Fortschritt. Immer mal wieder
ist da die Hoffnung, alles sei ein böser Traum und Patrick komme durch die Tür
wie eh und je. Aber die Realität ist schneller. Das Haus muss umgebaut werden,
rollstuhltauglich und mit einem Treppenlift in den ersten Stock. Sein geliebtes
Zimmer oben unter dem Dach mit dem Fenster, das den Himmel herein holt und den
Blick über Wiesen gleiten lässt, wird Patrick nicht mehr bewohnen können. Noch
ist alles hier unverändert, auf dem Tisch liegen die Bewerbungsmappen. Sie
erzählen von Plänen, Hoffnungen, von seiner unbändigen Freude, als die Zusage
fürs Studium kam. Sie erzählen von einem angefangenen Leben. Seine Mutter hatte
noch nicht die Kraft, sie wegzuräumen. 15.09.2006 |
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