Ein angefangenes Leben /Freitag, 15.09.2006
TA- Erfurter Allgemeine

Mach Dir keine Sorgen, hat er sie angelächelt. Heute Nachmittag sitze ich schon wieder im Bett. Das war an einem Morgen vor elf Monaten. Patrick stand kurz vor dem Abitur. Heute ist er ein Pflegefall.

VIESELBACH. Ein freundlicher, aufgeweckter Junge, neugierig auf die Welt. Einzig die häufigen Mittelohrentzündungen machten der Familie Sorgen. Irgendwann hatte Patrick ein Loch im Trommelfell. Keine große Sache, aber unbedingt zu operieren. Am besten, wenn er 18 ist, hatte der HNO-Arzt vorgeschlagen. Patrick hatte extra die Herbstferien gewählt, um in der Schule nichts zu verpassen. Ein guter Schüler, mit einem Faible für Computer, auch die Seminarfacharbeit war schon fertig. Beliebt in seiner Klasse, ein leidenschaftlicher, ausdauernder Fahrradfahrer. Und nach dutzenden Bewerbungen schon Anfang der Zwölften stolzer Besitzer eines Studienplatzes für Wirtschaftsinformatik in Jena."Er sollte drei Tage in der Klinik bleiben, hat noch seine Fahrschulunterlagen eingepackt, um die Zeit zu nutzen", erzählt seine Mutter.Patrick wurde am 24. Oktober 2005 im Helios Klinikum operiert. Die OP war fast beendet, als sein Herz stehenblieb. Es hörte auf zu schlagen, es weigerte sich, Sauerstoff ins Gehirn zu pumpen. Patrick war klinisch tot, wurde reanimiert. Erst nach mehr als einer Viertelstunde gelang es Ärzten und Schwestern, ihn zurückzuholen. "Es gab einen kleinen Zwischenfall" - Iris Hoffmann hat die hilflos-absurden Worte des Arztes am Telefon noch im Ohr. Als sie wenig später auf der Intensivstation am Bett ihres Jungen stand, lag er im künstlichen Koma und sie ahnte noch nicht, dass sein Hirn durch den Sauerstoffmangel irreparabel geschädigt war. Hypoxischer Hirnschaden.Sie konnte es sich nicht erklären: Wo, wenn nicht in einem Krankenhaus, in einem OP mit allen modernen medizinischen Geräten, wäre einem Herzstillstand beizukommen gewesen? Sehr bald hatte sie das Gefühl, dass einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. "Von der OP gab es keine elektronischen Protokolle, keine EKG-Aufzeichnung, alles war gelöscht", erzählt sie. Es gab nur handschriftliche Unterlagen. Von denen bekam sie je ein Blatt gezeigt, den Aufklärungsbogen für Patienten und den Narkose-Verlauf. Was sie damals noch nicht wusste: Jedes dieser Papiere existiert in zwei Varianten. Im Nachhinein wurden auf dem Aufklärungsbogen offenbar weitere Risiko-Punkte aufgelistet, auf die der Patient angeblich aufmerksam gemacht worden war. Es wurde viel herumgeschmiert in den Unterlagen. Das Protokoll zeigt in einer Ausfertigung einen heftigen Ausschlag bei der Herzfrequenz, in einer zweiten Ausfertigung fehlt dieser Zacken. Kopfschüttelnd deutet Iris Hoffmann auch auf das Aufwachprotokoll, das man ihr aushändigte. Es vermeldet, der Patient sei wach und rosig gewesen, habe ungehindert geatmet und einen stabilen Kreislauf gehabt. "Ein Hohn." Iris Hoffmann kennt alle Schriftstücke auswendig - die gefälschten und die originalen, die eines Tages in ihrem Briefkasten steckten. Doch es gibt nicht nur doppelte Protokolle. Patrick war auch nicht über den Einsatz eines so genannten MAfA - eines Anästhesie-Assistenten - aufgeklärt worden. MAfA sind speziell ausgebildete Pflegekräfte, aber keine Anästhesisten, die die Narkose und damit das Leben des Patienten überwachen. Die Helios-Kliniken propagieren das MAfA-System, in der deutschen Ärzteschaft ist es umstritten. Eine heftige Debatte lief unlängst im WDR. Dr. Gerald Burgard, Anästhesie-Chefarzt bei Helios Erfurt, befürwortete darin die MAfA und sagte: "Es ist überhaupt nicht interessant und überhaupt nicht attraktiv, eine Anästhesie von vorne bis hinten auszusitzen. Ein Akademiker hat andere Aufgaben, als Dinge zu machen, die er delegieren kann." (O-Ton WDR) "Als er ein ähnliches Statement im mdr-Fernsehen abgab und äußerte, es habe bisher keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben, lief mir die Galle über", sagt Iris Hoffmann.Familie Hoffmann hat lange gewartet, ehe sie Strafanzeige gegen Helios stellte. "Wir haben gehofft, dass jemand kommt und uns Aufklärung gibt", so Iris Hoffmann. "Vergeblich." Jetzt muss ein Richter helfen, die Stunden im OP lückenlos nachzuvollziehen. Es geht auch um Geld - um dem Jungen diese Zukunft, die er nicht mehr selbst finanzieren kann, die er nie wollte und die sich niemand in den bösesten Träumen ausgemalt hätte, wenigstens materiell zu sichern. Von der Helios-Zentrale in Fulda kommt nur ein offizieller Satz: "Wir bedauern den Zwischenfall und die Folgen", dann folgt der Verweis auf Schweigepflicht, Versicherungen und Anwälte. Auch davon kann Frau Hoffmann viel erzählen: Ein Vierteljahr habe sich der zuständige Makler Zeit gelassen, bis die Unterlagen von Helios Erfurt zur Konzern-Versicherung, der Züricher, gelangt seien. Die erstellte dann ein Gutachten - und jedesmal, wenn Frau Hoffmann das Amtsdeutsch liest, zittern ihr die Finger. "Keiner weiß, warum es passiert ist, das alles ist medizinisch für uns nicht erklärbar", sagt der Ärztliche Direktor des Klinikums, Prof. Dr. Dirk Eßer. "Aber es lässt sich nicht wegdiskutieren." Eßer hat sich ebenso wie seine Vorgängerin Dr. Liedloff intensiv um den Kontakt zur Familie bemüht - im Gegensatz zu anderen Mitarbeitern des Hauses. Eßer ist sicher, "dass der Herzstillstand nicht durch den MAfA verursacht wurde." Mehr darf und will er nicht sagen, das laufende Verfahren . . . "Vielleicht war es höhere Gewalt." Auch dieser Satz ist im Klinikum zur Erklärung zu hören. Doch Iris Hoffmann schüttelt den Kopf. Ihr Sohn war 18 und bis auf ein allergisches Asthma mit Prednisolon-Allergie - die den Ärzten im Vorfeld detailliert mitgeteilt wurde - gesund. "Wenn es höhere Gewalt war, muss niemand die Protokolle fälschen."Patrick weiß wenig von dem, was seine Eltern durch haben. Er hat nur Bruchstücke im Kopf von der Zeit nach dem 24. Oktober: Alle Versuche, ihn aus dem künstlichen Koma aufwachen zu lassen, scheiterten. Er fiel ins Wachkoma, drei Monate lang dämmerte er in einer Zwischenwelt. Die Eltern kümmerten sich selbst um eine Rehabilitationsklinik, fanden im sächsischen Kreischa einen Platz, wo er liebevoll aufgenommen wurde und nach Kräften gefördert wird. Das einzige, was Patrick bewegen kann, sind Arme und Kopf. Alle anderen Muskeln arbeiten nicht wie sie sollen. Die Kanüle im Hals, die ihm Monate lang das Atmen ermöglichte, ist jetzt entfernt. Patrick atmet selbst, er lächelt, manchmal lacht er lauthals. "Das Langzeitgedächtnis wird zunehmend besser", sagt seine Mutter. Er erkennt seine Familie, er freut sich unbändig, wenn ihn seine Lehrerin besucht oder wenn zwei einstige Mitschüler die drei Stunden Fahrt in die Klinik auf sich nehmen. Diese Besucher gehören zu den Menschen, die seinen Eltern immer wieder eine tiefe Freude ins Herz zaubern. Für Familie Hoffmann spielt sich das Leben seit Monaten auf der Autobahn ab. Jede freie Minute, jedes Wochenende sind sie in Kreischa. Spazierfahrten mit dem Rollstuhl, Vorleserunden, lange Erzählungen, damit Patrick etwas mitbekommt vom Leben außerhalb der Klinik. "Man merkt ihm an, dass er gern sprechen, sich bewegen möchte. Und dass ihm bewusst ist, dass er nicht so kann, wie er gern will." Wenn Patrick nach Hause entlassen wird, soll er am Leben teilhaben können, er soll unter Leute, sagen seine Eltern und hoffen auf eine geschützte Werkstatt, auf die Hilfe von Pflegediensten. Sie wissen auch, dass ihr großer, starker Sohn wohl nie mehr selbstständig leben kann. "Wir dachten, wir haben ihn groß." Die Gedanken von Eltern, deren Kind 18 wird, hatten auch sie. Unendlich lang scheint das her. Jetzt freuen sie sich über jeden kleinen Fortschritt. Immer mal wieder ist da die Hoffnung, alles sei ein böser Traum und Patrick komme durch die Tür wie eh und je. Aber die Realität ist schneller. Das Haus muss umgebaut werden, rollstuhltauglich und mit einem Treppenlift in den ersten Stock. Sein geliebtes Zimmer oben unter dem Dach mit dem Fenster, das den Himmel herein holt und den Blick über Wiesen gleiten lässt, wird Patrick nicht mehr bewohnen können. Noch ist alles hier unverändert, auf dem Tisch liegen die Bewerbungsmappen. Sie erzählen von Plänen, Hoffnungen, von seiner unbändigen Freude, als die Zusage fürs Studium kam. Sie erzählen von einem angefangenen Leben. Seine Mutter hatte noch nicht die Kraft, sie wegzuräumen.
Birgit KUMMER

15.09.2006    

mit freundlicher Genehmigung Thüringer Allgemeine Erfurt/Webfassung

 


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